(Auszug aus Prof. Dr. Franz Ruppert: Seelische Spaltung und innere Heilung)
6. Spaltungen und Verstrickungen
Das dauerhafte Verknüpfen von kleineren zu größeren seelischen Einheiten innerhalb eines Menschen und zwischen verschiedenen Menschen ist das Grundprinzip der seelischen Bindung. Das Grundprinzip der Spaltung ist das Trennen von seelischen Zusammenhängen in der Gesamtstruktur eines Menschen oder innerhalb eines menschlichen Bindungssystems. Da Bindung und Trauma auf der seelischen Ebene unmittelbar zusammenhängen, wirken sich seelische Spaltungen unweigerlich auf die zwischenmenschlichen Beziehungen aus. Sie verhindernden Aufbau gesunder, tragfähiger Partnerschaften, verunmöglichen liebevolle Eltern-Kind-Beziehungen, bringen Geschwister gegeneinander auf, zerrütten Freundschaften und erzeugen Zerwürfnisse in Arbeitsbeziehungen. Familien, Arbeitsteams und ganze Gesellschaften können von Menschen, die in sich gespalten sind, in stark polarisierte Konflikte hineingezogen werden, die nach bestimmten Mustern immer mehr eskalieren (Glasl, 1999), weil sich im Grunde dann die Überlebensanteile verschiedener Menschen und Menschengruppen gegenseitig bekämpfen.
Als Verstrickung definiere ich hier Beziehungsmuster, bei denen sich zwei oder mehr Menschen mit ihrem Überlebens-Ich emotional aufeinander beziehen, sich gegenseitig ihre Traumatisierungen unbewusst spiegeln und sich trotz fortwährender Beziehungskonflikte, die ihnen Leid und Nachteile zufügen, nicht voneinander lösen können.
6.1 Unheilvolle Symbiose
Symbiose bedeutet das »Zusammenleben zweier Lebewesen zum wechselseitigen Nutzen«. Dieser Begriff wird in der Psychologie verwendet, um den Zustand der Einheit eines Kindes mit seiner Mutter in den frühen Phasen nach der Geburt zu beschreiben (Mahler, 1972). Das Kind ist in dieser Lebensphase auf der körperlichen und seelischen Ebene auf den Kontakt zu seiner Mutter extrem angewiesen. Die Mutter braucht ihrerseits das Gefühl, dass dies ihr Kind ist, das sie über alles liebt und dessen Leben sie daher schützen muss wie ihr eigenes. Wenn so die Liebe zwischen Mutter und Kind fließt, gibt das dem Kind seine Existenzberechtigung, fördert sein Urvertrauen in sein Dasein, bestätigt ihm seinen Selbstwert, fördert seine Lebensfreude und seine wachsende Selbstständigkeit. Auch die Mutter bekommt durch den positiven Gefühlsaustausch mit ihrem Kind eine Bestätigung ihrer selbst. Man kann diesen Vorgang eine förderliche Symbiose nennen. Solange solche symbiotischen Prozesse auf die frühe Mutter-Kind-Bindung begrenzt sind, sich eine Mutter tief in die Bedürfnisse eines Kindes hineinversetzen kann und auch das Kind seine Mutter mit jeder Faser seines Daseins verinnerlicht, haben sie ihren Sinn. Bleibt das Verhältnis zwischen einer Mutter und ihrem Kind aber auf Dauer symbiotisch, stimmt seelisch etwas nicht und beide blockieren sich in ihrer jeweils eigenen Weiterentwicklung.
Man kann dann von einer unheilvollen Symbiose sprechen, wenn statt Liebe und Freude eher negative Gefühle wie Angst, Wut und Verzweiflung zwischen Mutter und Kind ausgetauscht werden. In solchen Fällen erkennt die Mutter die wirklichen Bedürfnisse ihres Kindes nicht, sie projiziert ihre eigenen Bedürfnisse in das Kind hinein, und dem Kind fällt es schwer, seine eigenen Bedürfnisse von denen seiner Mutter zu unterscheiden.
Zu symbiotischen Mutter-Kind-Verstrickungen kommt es meist, weil die Mutter selbst noch einen abgespaltenen kindlich-bedürftigen Anteil in sich hat, der wiederum von ihrer Mutter nicht das an symbiotischer Versorgung bekam, was er für eine gesunde Autonomie-Entwicklung gebraucht hätte. Daher erwartet dieser kindlich bedürftige Anteil in einer Mutter dieses Geliebt- und Angenommenwerden einerseits vom eigenen Kind, andererseits wird das Kind symbiotisch so versorgt, wie dieser Anteil es selbst für sich gerne hätte. Die tatsächlichen Bedürfnisse des Kindes werden dabei nicht wahrgenommen. Das Kind wird zum Objekt der Bedürfnisbefriedigung des symbiotisch unbefriedigten Anteils seiner Mutter und zum Hilfsmittel von deren Überlebensstrategie, durch den Kontakt mit dem Kind wenigstens nicht mehr allein zu sein. Das Kind wird also vom Überlebens-Ich-Anteil einer bindungstraumatisierten Mutter zum Objekt seiner Liebesbedürfnisse gemacht und nicht um seiner selbst willen und als Subjekt geliebt. Das Kind wiederum spürt den symbiotisch bedürftigen Anteil in seiner Mutter, möchte diesem helfen und hofft seinerseits darauf, auf diesem Wege vielleicht doch als etwas Eigenes wahrgenommen zu werden und seine eigenen symbiotischen Bedürfnisse befriedigt zu bekommen. Es bezieht aus der symbiotischen Versorgung seiner Mutter seine eigene Existenzberechtigung. Symbiotische Bindungsbeziehungen machen es den Beteiligten ein Leben lang schwer, zwischen Ich und Du zu unterscheiden. Welche Gefühle zu wem gehören und wer agiert und wer reagiert, ist oft nicht mehr festzustellen.
Ich brauche dich als mein Schutzschild!
Bei der Aufstellung von Josef wurde die unheilvolle Symbiose darin sichtbar, dass sich der traumatisierte Anteil seiner Mutter hinter seinem Rücken versteckte und nicht erkannt werden wollte. Josef sah daher nur den emotional unzugänglichen Überlebensanteil seiner Mutter, von dem er spürte, dass er Hilfe braucht. Den Anteil seiner Mutter, der sich aus Scham hinter ihm verbarg, bekam er nicht zu fassen. Für die durch sexuelle Übergriffe in ihrer Kindheit schwer traumatisierte Mutter war das Kind der Schutzschild, um sich vordergründig und nach außen hin als scheinbar normale Frau zu präsentieren. Indem Josef zu erkennen wagte, dass seine Mutter ihr Trauma hinter ihm zu verbergen suchte, konnte er in dieser Aufstellung aus der unheilvollen Symbiose mit ihr einen Schritt heraustreten. Er schrieb mir danach: »Dass es sexueller Missbrauch, Vergewaltigungen und Quälereien waren, die meiner Mutter wohl in ihrer Kindheit passiert sind, macht mich ganz traurig. Ich verstehe jetzt diese Größenfantasien in mir, irgendwas daran ändern zu können, ganz gut. Das war wie Don Quichotes Kampf gegen Windmühlen. Da kann ich nichts dran ändern, weder bei meiner Mutter noch bei meinen Freundinnen.« Magisch hatten ihn in seinem bisherigen Leben immer solche Frauen angezogen, die, ähnlich wie seine Mutter, ihre Gewalterfahrungen nicht wahrhaben und sich damit nicht auseinandersetzen wollten, deren seelische Not er aber überdeutlich spürte.
6.2 Kindliche Abhängigkeitsmuster
Kinder sind von ihren Eltern in einem umfassenden Sinne abhängig: • von den materiellen Dingen (Essen, Kleidung, Wohnung, Geld) und • von der emotionalen Zuwendung, vom Zuspruch, von der Aufmerksamkeit, von der elterlichen Liebe und Anerkennung. Es gibt daher eine grundsätzliche kindliche Bereitschaft, sich in der Abhängigkeit zu seinen Eltern einzurichten. Erst in der Pubertät bekommen Kinder eine Ahnung davon, dass sie die Möglichkeit haben, nicht ein Leben lang auf ihre Eltern angewiesen zu sein. Die seelische Entwicklungsaufgabe in der Pubertät besteht für das Kind darin, sich von seinen Eltern unabhängig zu machen. Am Widerstand, den die Eltern dagegen aufbringen, dem Kind seine eigenen Entscheidungen zu erlauben, muss das Kind seine Fähigkeiten erproben, selbstverantwortlich zu werden. Eltern, die selbst gelernt haben, in einem guten Sinne unabhängig von ihren Eltern zu werden, können das Kind immer mehr freigeben. Eltern, die hingegen immer noch mit ihren eigenen Eltern unheilvoll symbiotisch verstrickt sind, werden versuchen, das eigene Kind weiter in Abhängigkeit zu halten.»Held« und »schwarzes Schaf« Kinder, deren Eltern seelisch gespalten sind und sie in Abhängigkeit halten, weil sie die Kinder für ihr seelisches Überleben brauchen, gehen damit unterschiedlich um. Ein Teil der Kinder verhält sich den Eltern gegenüber fürsorglich, übernimmt viele Pflichten im Haushalt, versucht durch gute Leistungen in der Schule seine Berufschancen zu steigern, um möglichst bald den Eltern finanziell nicht mehr auf der Tasche zu liegen und gegebenenfalls Geld für den Familienunterhalt beizusteuern. Solche Kinder helfen ihren Eltern dabei, ihre Traumatisierungen nichtwahrnehmen zu müssen und ihre abgespaltenen Anteile weiter zu verstecken. Sie unterdrücken ihre Wut, weil Wut bei ihren Eltern, die sie als schwach erleben, nichts bewirkt außer vielleicht Tränen und noch mehr depressive Schwäche. Solche Kinder stellen ihre eigenen Ansprüche und Bedürfnisse immer hinten an. Sie sind auch später im Berufsleben angepasst und strebsam. Sie übernehmen mit Vorliebe Verantwortung für etwas, was sie im Grunde überfordert und nicht ihren eigenen Bedürfnissen entspricht. Sie arbeiten sich zu Tode, obwohl sie am liebsten nichts tun oder nur spielen möchten. »Helden« sind perfekte Kinder, sie werden perfekte Ehefrauen, perfekte Schwiegersöhne, perfekte Vorgesetzte - im symbiotisch bedürftigen Teil ihrer Seele bleiben sie ihr Leben lang zutiefst einsam.»Schwarze Schafe« verfolgen die umgekehrte Strategie. Sie verhalten sich immer noch bedürftiger als ihre Eltern. Ein solches Kind macht alles, um sich so verantwortungslos und unselbstständig wie möglich zugeben. Die Eltern müssen sich ständig sorgen, was das Kind als nächstes anstellen und kaputt machen könnte. Konflikte mit Lehrern, mit den Mitschülern, Drogenkonsum, frühe sexuelle Beziehungen - die Palette der Möglichkeiten ist sehr groß, womit ein Kind seine Eltern in Angst und Schrecken versetzen kann, um ihre ganze Aufmerksamkeit zu absorbieren und sie daran zu hindern, seelisch wegzudriften. Um etwas aufzudecken, was die Eltern in ihrer Seele zudecken, übernehmen sie die Rolle des »enfant terrible«. Sie fördern alle Spaltungen in der Seele ihrer Eltern zutage. Ein solches Kind versucht, durch Trotz seine Eltern in die Verantwortung zu zwingen. Es fordert unablässig und macht keinerlei Anstalten, selbst für sich zu sorgen. Es richtet sich in seiner Abhängigkeit ein und zeigt wenig gesundes Bestreben, dieser zu entkommen. Es entwickelt seine Talente nicht mit dem Ziel, autonom und unabhängig zu werden. Die Eltern können dieses Kind nicht zur Selbstständigkeit und Selbstverantwortlichkeit erziehen, solange sie selbst in ihren tiefen seelischen Spaltungen gefangen sind und vor allem in ihrem Überlebensmodus funktionieren.
6.3 Mittragen elterlicher Spaltungen
Kinder spüren die Traumatisierungen in der Seele ihrer Eltern. Sie haben Angst um sie und nehmen die abgespaltenen Traumaanteile ihrer Eltern in ihre eigene seelische Struktur auf. Sie tragen das Trauma der Eltern in ihrer Seele mit. Beiß die Zähne zusammen! Konstanze beißt ihre Kiefer sehr stark zusammen und hat deswegen Verspannungen im gesamten Gesichtsbereich. Als sie in der Aufstellung für dieses Symptom einen Mann auswählt, kommt ihr bei der gebückten Haltung, die der Stellvertreter einnimmt, sofort die Assoziation: »wie mein Vater!«. Im Verlauf der Aufstellung erzählt Konstanze, dass ihr Vater in der SS und Soldat an der russischen Front war. Aufgrund einer Verletzung wurde er ausgeflogen und entkam so dem Kessel von Stalingrad in letzter Minute. Konstanze war die Einzige, der er seine Geschichten vom Krieg erzählte. Sie hatte als Kind starkes Mitleid mit ihm und spürte, dass es ihn eigentlich wegzog zu seinen gefallenen Kriegskameraden. So ertrug sie das Grauen, das er ihr verbal andeutete und nonverbal durch seine plötzlichen Gewaltausbrüche vermittelte, aus Angst, ihr Vater könnte sich etwas antun. Um diese enormen Spannungen zwischen ihr und dem Vater auszuhalten, musste Konstanze sich aufspalten. Ein Teil von ihr war mit der Last des väterlichen Traumas vollgesaugt und beladen. Ein anderer Teil schien nichts davon zu wissen, was der Vater ihr alles antat. Er war dem Vater nahe, gab ihm Wärme und spürte eine gewisse Wärme von ihm. Die Verstrickung mit dem Vater wurde begünstigt, weil Konstanzes Mutter für sie emotional nicht erreichbar war. Diese Mutter war selbst von ihrer Mutter emotional im Stich gelassen worden. Durch die Aufstellung konnte Konstanze deutlich die in ihr vorhandene Spaltung wahrnehmen und am Ende zwischen den beiden Anteilen in ihr eine vermittelnde Position einnehmen. In der Abschlussrunde sagte sie: »Ich habe jetzt das aufregende Gefühl, wie sich in meinem Gehirn die rechte und linke Gehirnhälfte wieder verbinden können.«Das in der Kindheit gelernte Muster von Abhängigkeit und Verstrickung bleibt für einen Menschen das gesamte Leben lang prägend. Es ist unbewusst entstanden, und solange es nicht reflektiert und korrigiert wird, bestimmt es weiterhin das Fühlen, Denken und Handeln. Auch in den Situationen, in denen keine materielle Abhängigkeit mehr vorhanden ist, bleiben Menschen in den alten emotionalen Mustern, die in ihrer Kindheit für ihr Überleben funktional waren. Sie haben immer noch Angst, ohne dieses Muster nicht überleben zu können. Unter dem Blickpunkt der Spaltung gesehen: Ein Persönlichkeitsanteil ist groß und selbstständig geworden, der andere fühlt sich immer noch abhängig wie ein Säugling und kämpft weiter darum, die Person,von der er einmal abhängig war, für sich zu gewinnen. An die Stelle der ursprünglichen Person treten dann Freunde, Partner, eigene Kinder oder Arbeitskollegen. Sie werden erlebt und behandelt wie die Originalperson, also die Mutter. Sie werden ebenso geliebt, versorgt, gefürchtet, ge-hasst und bekämpft. Negative Erfahrungen mit der Sexualität und entsprechende Abspaltungen von Müttern prägen auch die Verhaltensweisen ihrer Söhne in Hinblick auf ihre Partnerinnen und Frauen. Den Sohn zieht es zum traumatisierten Anteil seiner Mutter hin, weil er darin ihre Gefühle spürt. Deren Überlebensanteil hält ihn jedoch auf Abstand und lässt ihn emotional verhungern, wie das folgende Beispiel illustriert.
Verklemmt!
Rüdiger suchte in einem Aufstellungsseminar nach einer Lösung für seine Beziehungsprobleme mit Frauen, die sich aktuell so äußerten: Bei der einen Frau, die er als seine Idealfrau bezeichnete und die auch etwas von ihm wollte, konnte er sich nicht zu einer Beziehung durchringen, sodass sie sich nach einiger Zeit einem anderen Mann zuwandte. Die andere Frau, von der er etwas wollte, beendete die Beziehung klar und eindeutig mit ihm, doch er konnte sie innerlich nicht loslassen. In seiner Aufstellung war der beziehungssuchende Seelenanteil von Rüdiger mit seiner Mutter symbiotisch verbunden. Er bewegte sich in einemengen Korridor zwischen den beiden Anteilen seiner Mutter hin und her. Er konnte nur seitlich hin und her trippeln. Sobald er dem traumatisierten Anteil seiner Mutter zu nahe kam, stoppte er, weil er die Trauer der Mutter spürte. Kam er dem Überlebensanteil seiner Mutter näher, stoppte dieser Anteil Rüdigers Annäherungsversuch ab. Mit diesem Anteil schwor seine Mutter Rüdiger darauf ein, sich brav und angepasst zu verhalten. Rüdiger war somit gefangen. Er kam nicht zu seiner Mutter hin, weil sie sonst entweder ärgerlich und zurechtweisend oder traurig und instabil wurde. Er kam auch nicht von ihr los, weil er nicht wusste, wohin er sich sonst wenden sollte.
6.4 Verstrickte Paarbeziehungen
Die Frau als Mutterersatz
Kinder, die von Geburt an allein gelassen, zur Adoption oder in Heime und Pflegefamilien weggegeben werden oder deren Mutter früh stirbt, könnten ohne illusionäre Bilder und Fantasien von ihrer Mutter, an die sie sich klammern, nicht überleben. Es ist daher verdächtig, wenn sich Menschen mit einem schweren Kindheitsschicksal wie der wandelnde»Sonnenschein« verhalten, immer lächeln, kontaktfreudig sind und niemals selbst Probleme zu haben scheinen. Solche Menschen haben immer ein offenes Ohr für die Probleme anderer. Sie sind sehr hilfsbereit,machen sich Sorgen um andere, lösen deren Probleme und erleben sich als deren Retter. Dahinter stecken oftmals tragische Schicksale. Der Sonnenschein Christian war privat und beruflich immer unterwegs und in seinem großen Freundeskreis sehr beliebt. Er war in vielen Projekten engagiert. Er lernte im Urlaub eine einheimische Frau kennen, nahm sie mit nach Deutschland, heiratete sie und bekam eine Tochter mit ihr. Er versorgte hingebungsvoll Frau und Kind und kaufte seiner Frau sogar in deren Heimatland eine eigene Wohnung, damit sie dort bei ihren Eltern und Verwandten sein konnte, wann immer sie wollte. Allmählich wurde seine Frau aber »schwieriger«. Sie forderte immer mehr, machte ihm Vorwürfe, war zeitweise sehr depressiv, dann wieder unvermittelt aggressiv. Sie brachte die Tochter gegen den Vater auf. Christians Schilderungen zufolge zeigte seine Frau die typischen Verhaltensweisen eines bindungs-traumatisierten Kindes. Zu vermuten ist, dass bei ihr durch die Entwicklung ihrer Tochter abgespaltene traumatisierte Anteile wachgerufen wurden, die sie an ihre eigene Kindheit und wahrscheinlich auch an ihren sexuellen Missbrauch erinnerten. Christian räumte im Gespräch ein, dass er seine Frau im Rotlichtmilieu kennengelernt hatte. Christians Welt brach plötzlich wie ein Kartenhaus zusammen. Seine Frau ließ keine sinnvolle Auseinandersetzung mehr zu. Sie verweigerte ihm schließlich den Kontakt mit der Tochter. Die üblichen Wege der Konfliktverschärfung nahmen ihren Lauf: Rechtsanwälte, Polizei, Richter und Jugendamt waren damit beschäftigt, den immer mehr eskalierenden Konflikt in Grenzen zu halten. Erst in dieser Situation suchte Christian für sich persönlich Hilfe. Es stellte sich in der ersten Psychotherapiesitzung heraus, dass er bereits als Zweijähriger von seiner Mutter verlassen worden war und diese seitdem nie wieder gesehen hatte. Er war bei seinem Vater aufgewachsen, der immer zu verhindern wusste, dass er mit seiner Mutter noch einmal in Kontakt kam. Für den Vater war Christians Mutter pure Provokation und an allem schuld. In der therapeutischen Arbeit mit Christian kam hinter dem »Sonnenscheinanteil« das tief traurige, ängstliche und verzweifelte Kind zum Vorschein, das von seiner Mutter verlassen worden war. Erst als Christian bereit war, diesen Anteil in sich zu akzeptieren und liebevoll anzunehmen, konnte er für den Konflikt mit seiner Frau eine für ihn befriedigende Lösung finden. Er begann damit, sein gesamtes bisheriges Leben zu hinterfragen, auch seine unendliche Hilfsbereitschaft und seinen sich bei ihm bedienenden Freundeskreis, den er in seiner Rolle als »Sonnenschein« um sich versammelt hatte. Er wurde realistischer in Bezug auf das, was er tatsächlich für andere tun konnte und was er für sich selbst wirklich brauchte. Er hatte bisher immer die anderen versorgt in der Hoffnung, dass sie ihn dann lieben und nicht verlassen - so wie seine Mutter dies getan hatte.
Der Mann als Mutterersatz
Die Partnerwahl erfolgt wohl in den meisten Fällen aufgrund von unbewussten Motiven. Liegen bei den Partnern Spaltungen vor, so entdeckt jeder der Partner beim anderen einen Anteil, von dem er sich ein Stück Stabilisierung für seine eigene seelische Balance erhofft. Wenn bei einer Aufstellung Paare ihre verschiedenen Seelenanteile darstellen, wird anschaulich, wie diese Anteile zueinander stehen und warum dieses Paar sich einerseits gesucht hat, andererseits aber nicht wirklich zu einer stabilen Partnerschaft finden kann. Lass mich nicht im Stich! Monika hat Paul dazu bewogen, mit in ein Aufstellungsseminar zukommen. Beide wissen keinen Ausweg mehr für die immer mehr eskalierenden Konflikte in ihrer Partnerschaft. Paul ist Handwerker. Er beschreibt seine Kindheit als glücklich. Er habe sich bei seinen Eltern immer gut gefühlt und auch viel persönliche Freiheit erlebt. Nur die Scheidung der Eltern, als er in der Pubertät war, hätte ihn belastet. Er sei dann früh selbstständig geworden und als Installateur beruflich bald auf eigenen Beinen gestanden. Monika hat es nach ihren Worten in ihrer Kindheit viel schwerer gehabt. Sie beschreibt die Beziehung zu ihrer Mutter als sehr angespannt. Es stellt sich auf meine Nachfrage heraus, dass ihre Mutter mit vier Jahren von ihrer Mutter während des Krieges auf das Land zu Verwandten geschickt worden war und daher lange von ihrer Mutter getrennt war. Monika beklagt sich im Gespräch vor der Aufstellung sehr über ihren Mann. Er vernachlässige sie, arbeite nur noch und mache auch noch Fehler, die sie dann ausbügeln müsse. Paul reagiert auf diese Vorwürfe hilflos und hält dagegen, indem er sein oft stressreiches und kräftezehrendes Dasein als Handwerker schildert. Er möchte Monika zuliebe seinen Betrieb gegebenenfalls auch schließen, sich einen anderen Job suchen, wenn das weiterhelfe. Wie erwartet zeigt die Aufstellung, dass darin nicht die Lösung für das Beziehungsproblem der beiden liegt. Ich lasse Monika und Paul jeweils einen Anteil für ihr Erwachsen- wie ihr Kindsein aufstellen. Es wird deutlich, dass Monikas kindlicher Anteil die kindliche Wut und die Verlassenheitsängste ihrer Mutter in sich trägt, die verhindert haben, dass Monika und ihre Mutter eine sichere Bindung aufbauen konnten. Wie die Aufstellung vermuten lässt, wurde Monikas Mutter wahrscheinlich nicht allein wegen des Krieges von ihrer Mutter aufs Land geschickt. Auch im Verhältnis zwischen Monikas Mutter und der Großmutter deutet sich in der Aufstellung eine tief gestörte Bindung an. Monika erwartet demnach von ihrem Mann Paul etwas, was dieser ihr nicht geben und ersetzen kann - die mütterliche Liebe, Zuwendung und Aufmerksamkeit. Das nicht bereinigte Konfliktthema zwischen ihr und ihrer Mutter und zwischen ihrer Mutter und deren Mutter hat sich unbewusst auf die Beziehung zwischen Monika und Paul übertragen. Warum sucht sich Monika einen Mann wie Paul? Als Paul seine Mutter in die Aufstellung dazustellt, wird dies deutlicher. Monikas kindlich vernachlässigter Anteil versucht sich sofort bei Pauls Mutter anzulehnen, was Pauls kindlicher Anteil mit großem Argwohn und mit Eifer- sucht betrachtet. Monikas bedürftiger Anteil hat in Pauls Seele dessen versorgende Mutter entdeckt. Warum hat Paul sich Monika zu seiner Partnerin gewählt? Die Antwort liegt zum Teil anscheinend in Monikas Überlebensanteil, der für Pauls Erwachsenenanteil herausfordernd ist - Monika ist für ihn in dieser Hinsicht eine interessante Frau. Wie die Aufstellung auch zeigte, hat Pauls kindlicher Anteil Interesse am traumatisierten Anteil von Monikas Mutter. Der kindliche Anteil von Paul spürt bei seiner eigenen Mutter einen hilfsbedürftigen Anteil, dem er gerne zur Seite stehen möchte. Indem Monika und Paul sich mit ihren inneren Anteilen befassen, die noch sehr mit den ungeklärten Konflikten mit ihrer jeweiligen Mutter beschäftigt sind, können sie den Kind- und Erwachsenenanteil in sich mehr integrieren. Um die Lösung ihrer eigenen seelischen Probleme nicht mehr von ihrem Partner zu erwarten, muss Monika sich aus dem Verlassenheits-Trauma ihrer Mutter lösen, damit sie ihre Partnerschaft nicht mit diesen übernommenen Traumagefühlen zerstört; und Paul muss erkennen, dass er keine Verantwortung für das emotionale Leid seiner Mutter hat, ein Gefühl, das ihn zwar zu Monika hinzieht, gleichzeitig aber verhindert, dass er sich emotional tiefer auf sie einlassen kann. Im Verlauf des Aufstellungsprozesses gelingt es beiden, einige Schritte für ihre eigene seelische Integration zu machen. Sie können sich als Paar neu begegnen.
Die Frau als idealisierte Mutter
Männer, deren Mütter in einer Bindungstraumasituation groß geworden sind, suchen sich oft mit traumwandlerischer Sicherheit wieder Partnerinnen, die auch bindungstraumatisierte Kinder sind. Insofern sie es gelernt haben, ihre traumatischen Erfahrungen mit ihrer eigenen Mutter perfekt wegzudrücken, fühlen sie sich stark genug, die vielfältigen Leiden und Eskapaden ihrer Partnerinnen geduldig zu ertragen. Sie sind immer als deren Retter zur Stelle. Geduldig gleichen sie aus, was die während der Partnerschaft und Ehe immer mehr ans Licht kommenden traumatisierten Anteile ihrer Frauen an Chaos anrichten. Sie adoptieren z. B. die Kinder der Frau aus ihrer ersten gescheiterten Ehe, sie sind finanziell äußerst großzügig, sie erdulden die Unfähigkeit ihrer Frau, zu Hause Ordnung zu halten, weil sie in ihren Spaltungen teilweise völlig entscheidungsunfähig ist. Sie sehen die Realität nicht und klammern sich an den Momenten fest, in denen die Partnerin ihre in der Kindheit auch gelernte angepasste »Ich-mache-dir-alles-recht«-Überlebensseite zeigt, mit der sie äußerst liebreizend, charmant und verführerisch wirken kann. Diesen Anteil halten sie aller gegenteiligen Erfahrungen zum Trotz für das eigentliche Wesen ihrer Frau, so wie sie als Kinder bei ihrer Mutter bewusst auch nur deren zuweilen »grandiosen« Anteil wahrgenommen haben.
Du bist der Böse!
In den Konfliktgesprächen, die ein solches Paar mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit irgendwann vor Sozialarbeitern des Jugendamtes,vor psychologischen Gutachtern oder Scheidungsrichtern austrägt, weil dem idealisierenden Mann z. B. durch die Konflikte seiner Frau mit den Kindern die Situation zunehmend entgleitet, kann die Frau ihren angepassten Sonnenscheinanteil oft ausspielen. Ihr Mann bemüht sich in seiner Unfähigkeit, etwas wirklich Negatives über seine Frau zusagen, vergeblich darum, deutlich zu machen, dass seine Frau zu Hause ganz anders sei und ihn und die Kinder tyrannisiere. Sorgerechtsentscheidungen werden in solchen Fällen dann zugunsten der Frau gefällt. Wenn Gutachter und Richter von Persönlichkeitsspaltungen wenig wissen, sehen sie oft in der Frau das arme Opfer eines dominanten Mannes, anstatt den Täteranteil dieser Frau wahrzunehmen. Mit Amtshilfe und gerichtlicher Genehmigung wird dann der Weg gebahnt, dass aus den Kindern des Paares mit hoher Wahrscheinlichkeit magersüchtige Mädchen oder gewalttätige und sexuell übergriffige Jungen werden. Man würde das Übel solch verstrickter Familienstrukturen mehr an der Wurzel packen, wenn man der tief gespaltenen Mutter nahelegen würde, sich umgehend therapeutische Unterstützung zu holen. Hier könnte ihr geholfen werden, sich klar zu werden, wer »der Böse«wirklich ist, gegen den ihr Überlebens-Ich da blind kämpft und mit dem sie ihren Mann verwechselt. Aber auch dem Mann sollte angeraten werden, mit therapeutischer Hilfe nachzusehen, warum er sich so blauäugig in eine so tief gespaltene Frau verliebt und sich so fest an sie gebunden hat.
Der Mann, der mich liebt und nie verlässt
Bei nicht wenigen Frauen gibt es die Vorstellung, mit ihrer Liebe einen Mann retten zu können, der mit seinen Alkoholabstürzen, seiner Gewalttätigkeit oder seinem übergriffigen Verhalten den Kindern gegenüber immer wieder deutlich zeigt, wie seelisch gespalten er tatsächlich ist. Sie stützen ihre Illusionen auf die Momente, in denen dieser Mann ihnen sagt, dass sie die Einzige ist, die ihn versteht, in denen er sich als lieber, süßer kleiner Junge verhält, zuvorkommend ist oder als Mann verführerisch wirkt. Dass er sich im nächsten Moment wieder wie ein Wahnsinniger verhalten kann, gewalttätig wird und sich sinnlos betrinkt, begreifen sie nicht als die andere Seite der gleichen Münze. Immer wieder versuchen sie, dem »guten und lieben« Anteil eine Chance zu geben. Warum? Weil sie selbst diesen ewig liebesbedürftigen Anteil in sich haben, der für die Aussicht auf ein wenig Zuneigung von seiner Mutter oder seinem Vater selbst Gewalt und Missbrauch in Kauf nimmt und die Illusion nicht aufgeben will, dass man durch aufopferungsbereite Liebe alles erreichen kann. Weil sie ihre eigene Traumatisierung nicht wahrnehmen wollen, bleiben sie auch blind gegenüber der Traumatisierung ihres Partners. In der psychologischen Fachliteratur hat sich für dieses Verhalten der Begriff »Coabhängigkeit« geprägt (Kolitzus,2000).
»Ich muss ihm dankbar sein!«
Eine Patientin war wegen des Alkoholkonsums ihres Mannes bereits zu einer Angehörigengruppe der Anonymen Alkoholiker gegangen. In der Therapie stellte sich als die Ursache ihrer Coabhängigkeit heraus, dass sie in das Schicksal ihrer Mutter verstrickt war, die als Neunjährige während des Zweiten Weltkrieges von zu Hause weggeschickt worden war und ihre Eltern dann nie mehr gesehen hatte. Sie war mit dem in seinem Gefühl von Abgeschobensein, Hilflosigkeit und Angst verharrenden Seelenanteil ihrer Mutter verbunden. Sie hatte daher in Beziehungen trotz ihres attraktiven Aussehens und ihrer hohen kommunikativen und intellektuellen Fähigkeiten kein Gefühl für ihren eigenen Selbstwert. Sie ordnete sich unter und war froh und dankbar, von ihrem Mann als Ehefrau angenommen zu werden. Liebe empfand sie nicht wirklich zu ihm. Seine ausdauernde Anhänglichkeit war für sie der Grund gewesen, seinen Heiratsantrag schließlich anzunehmen. Als sie in der Therapie ihre Verstrickung mit ihrer Mutter bearbeitete, deren Traumatisierung verstand und sich von ihr innerlich lösen konnte, konnte sie ihr eigenes verlassenes und hoch ängstliches Kind annehmen. Sie wurde immer selbst-bewusster und ging innerhalb ihrer Ehe mehr ihre eigenen Wege.
6.5 Verstrickungen in der Psychotherapie
Auch Beziehungen zwischen Psychotherapeuten und Patienten können sich verstricken und in symbiotische Sackgassen geraten. Eines der häufigsten Probleme ist es wahrscheinlich, dass der Therapeut versucht, Überlebens-Ich-Anteile des Patienten zu verändern und deren »Abwehrstrategien« zu überwinden. Es kommt dann zu unfruchtbaren Auseinandersetzungen, weil das Überlebens-Ich des Patienten in der Regel wesentlich mehr Energie mobilisieren kann als das gesunde Ich eines Therapeuten. Im höflichen Fall weist es alle Versuche des Therapeuten, es zu einer Veränderung seiner Überlebensstrategien zu veranlassen, miteinem »Ja, aber das geht nicht!« zurück. Gerät der Therapeut dann, z. B. weil er sich ohnmächtig fühlt oder weil er wütend wird, selbst in einen Überlebensmodus, kann es zu Verstrickungen und unheilvollen »Übertragungen« kommen. Bei einem Psychotherapeuten in einer »Heldenrolle« kann es eine Tendenz geben, den Patienten vor dessen Traumagefuhlen zu schützen. Der Therapeut lenkt sofort ab, tröstet den Patienten oder versucht ihn zu stabilisieren, wenn bei diesem massive Angst, Wut oder heftiger Schmerz, also Traumagefühle, hochkommen. Der Therapeut reagiert nun mit seinem Überlebens-Ich, das die eigenen traumatisierten Anteile ebenfalls nicht an die Oberfläche kommen lassen will. Weil er selbst fürchtet, die Kontrolle zu verlieren, wenn seine traumatisierten Anteile die Oberhand in ihm gewinnen, unterstellt er dies auch bei seinem Patienten und geht so eine Koalition mit dessen Überlebens-Ich ein. Therapeut und Patient brauchen sich in solchen Fällen gegenseitig, um die eigenen Abspaltungen nicht zu berühren. Es kann auch sein, dass Patienten spüren, dass sie sich mit ihren wirklich schwierigen Lebenserfahrungen dem Therapeuten nicht zumuten können, weil dieser sonst überfordert wäre, wie es einst schon die eigenen Eltern waren. Dadurch kann sich therapeutisch nicht viel bewegen und die Therapien werden lange und ermüdend.
Es gibt eine Reihe von Therapieanliegen, die den Keim der Verstrickung in sich tragen:• Wenn Eltern ihre Kinder zum Psychotherapeuten schicken, ohne ihrerseits bereit zu sein, an ihren eigenen seelischen Problemen zu arbeiten, bringt das die Gefahr, dass auch der Therapeut im Kind das eigentliche Problem sieht und sich mit den Eltern gegen das Kind verbündet.• Wenn Eltern andererseits nur deshalb eine Psychotherapie machen wollen, um ihren psychisch gestörten Kindern zu helfen, fuhrt das auch zu keinen guten Ergebnissen. Weder wird dadurch die notwendige Ablösung des Kindes von seinen Eltern gefördert, noch arbeiten Eltern dann mit vollem Ernst an der Auflösung ihrer eigenen Spaltungen. Sie sind schon wieder auf jemand anderen fixiert anstatt auf sich selbst und lenken sich von ihren eigenen Themen ab.• Zuweilen beginnen Frauen eine Psychotherapie mit dem Ansinnen,für ihren Ehemann oder Partner etwas auflösen zu wollen, obwohl sich dieser ausdrücklich dagegen sträubt, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Die Not dieser Frauen ist zwar verständlich, doch habe ich es stets so erlebt, dass solche Partnerschaften es auch der Frau ermöglichen, ihre eigenen seelischen Abspaltungen zu verdrängen und die Ursache stattdessen bei ihrem Mann zu suchen.»Was kann ich für meinen traumatisierten Sohn machen?«In einem Seminar wollte eine Mutter wissen, ob sie noch etwas für ihren Sohn machen müsse, der vor einiger Zeit einen schweren Arbeitsunfall erlitten hatte. Wie die Aufstellung nahelegte, versuchte sich aber ihr eigener in ihrer Kindheit traumatisierter Seelenanteil an den durch den Unfall traumatisierten Anteil ihres Sohnes zu klammern. Der traumatisierte Anteil dieser Frau fühlte sich von deren eigenem Überlebensanteil nicht gesehen und unterstützt. Dass sich der traumatisierte Anteil seiner Mutter nun auch noch an ihn klammerte, war sowohl dem traumatisierten wie dem Überlebensanteil des Sohnes zu viel. Der notwendige therapeutische Schritt bestand daher darin, diese Verstrickung sichtbar und der Mutter einsehbar zu machen, sich die Zeit und den Raum zu nehmen, um für sich selbst besser sorgen zu können. Je mehr sie für sich selbstmacht, desto mehr hilft sie damit zugleich ihrem Sohn, da dieser dann seine ganze Kraft darauf konzentrieren kann, wieder gesund zu werden.
»Ich habe Angst, dass die Patientin sich umbringt«
In einem Supervisionsseminar äußerte ein psychologischer Berater seine Sorge, eine seiner Klientinnen könnte sich umbringen. In der Aufstellung zeigte sich, dass sein eigener traumatisierter Anteil hilflos zwischen dem Überlebens- und dem traumatisierten Anteil der Klientin stand und den Kontakt zwischen beiden noch mehr blockierte. Erst als er seine eigene Todesangst anerkannte, die ihn seit seiner Kindheit begleitete - u. a. war sein Vater im Krieg nur knapp einer Erschießung entkommen -, wurde der Weg frei, dass auch seine Klientin der Möglichkeit, Erlösung im Tod zu suchen, offener ins Auge blicken konnte. Sie bemerkte nun, dass sie auch durch den Tod nicht aus ihrer Einsamkeit befreit werden konnte. Es zeigte sich in dieser Aufstellung, was hinter vielen Selbstmordgedanken eigentlich steckt: der Wunsch nach Kontakt mit einem lebendigen Gegenüber. Es wird ihr mehr helfen, wenn der Berater dieses Bedürfnis hinter ihren Suizidgedanken erkennt und es ihr bewusst macht, anstatt selbst in Panik zu geraten.
6.6 Verstrickungen in der Sozialarbeit
Sozialarbeiter haben es in vielen ihrer Arbeitsfelder mit Menschen zu tun, die sehr gespalten sind und aus diesem Grund in große soziale Notlagen geraten und sich immer wieder in unlösbare Konflikte verstricken. Zudem sind ihre Klienten oft noch weit davon entfernt, das Problem bei sich selbst zu sehen und sozialpädagogische Hilfe, geschweige denn psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Deren Über-lebens-Ich sucht vielmehr die Lösung der Probleme fast nur im Außen und wehrt sich vehement dagegen, sich mit den eigenen Traumatisierungen und Spaltungen zu konfrontieren. Das folgende Beispiel habe ich in einer Zeitschrift gefunden (Brigitte9/2005). Ich habe es für die Darstellung etwas überarbeitet. Diese Fallgeschichte beschreibt meines Erachtens sehr gut die Situation einer Frau, die aufgrund ihrer eigenen Traumatisierungen in ihrer Kindheit ein gigantisches familiäres Chaos um sich herum schafft und viele Sozialarbeiter und die Gerichte beschäftigt. Die Spaltungen in ihrer Person spiegeln sich auch in den Verhaltensweisen der Menschen wider, die ihr und ihren Kindern helfen wollen und sollen.
»Ich bin eine gute Mutter!«
Frau H. ist 26 Jahre alt und Mutter von fünf Kindern, die drei verschiedene Väter haben. Das Jugendamt hat beim Vormundschaftsgericht den Antrag gestellt, die sechsjährige Sandra, das zweite Kind von Frau H., in eine Pflegefamilie zu geben. Ein psychologisches Gutachten hat Frau H. die Erziehungsfähigkeit für alle ihre Kinder abgesprochen. Frau H. findet das ungerecht und versucht sich mit allen Mitteln dagegen zu wehren. Sie behauptet: >lch liebe meine Kinder und meine Kinder lieben mich. Ich bin eine gute Mutter. Ich erziehe sie so, dass sie mir nicht mit 30 oder 40 Jahren noch am Rockzipfel hängen. Sie sollen freundlich sein gegen andere Menschen, ihnen aber nicht zu viel vertrauen. Ihr erstes Kind, Tobias, bekam Frau H., als sie 17 Jahre alt war. Die fünf Kinder sind jetzt 9, 6, 5, 3 und 1 Jahr(e) alt. Mit dem Vater der beiden jüngsten Kinder ist Frau H. heute verheiratet. Zu siebt lebt die Familie in einer verwahrlosten Sozialwohnung am Rand eines Dorfes. Frau H. ist Kettenraucherin und hat den typischen Raucherhusten. Sie hat die >Sonderschule< besucht so wie jetzt auch ihr Sohn Tobias, der in eine Förderschule geht. Als ihr Sohn mit der Sozialarbeiterin, die das Jugendamt als Erziehungsbeistand für die Familie beauftragte, zum Fußballplatz aufbricht, fragt die Mutter ihn: >Was ist mit deinem Husten?< Sie sagt zur Sozialarbeiterin, Tobias täusche gerne Krankheiten vor, damit er nicht zur Schule gehen müsse. Frau H. war das älteste von fünf Geschwistern in ihrer Herkunftsfamilie. Der Vater war Bauarbeiter, die Mutter arbeitete als Putzfrau. Soweit dem Jugendamt bekannt, war die Mutter von Frau H. alkoholabhängig, auch ihr Vater hat viel und oft getrunken. Mit sechs Jahren kam Frau H. in ein, wie sie es nennt, >Schwererziehbaren-Heim<. Nach einem Jahr kam sie wieder nach Hause zurück. An ihre Kindheit hat sie nur wenige Erinnerungen. Als Frau H. mit ihrem ersten Kind schwanger ist, drängt ihre Mutter sie zu einer Abtreibung. Die Sozialarbeiterin, die damals die Familie betreute, rät ihr zur Freigabe des Kindes zur Adoption. Frau H. will jedoch das Kind haben und es großziehen. Sie überlässt ihren Sohn nach der Geburt teilweise ihren Eltern und beginnt eine Lehre als Köchin, die sie nach einem Jahr abbricht. Ihren Freund, den Vater des Kindes, schickt sie nach zwei Jahren weg, weil er sich an den Wochenenden immer betrinkt. Sie zieht dann zusammen mit ihrem Sohn Tobias von ihren Eltern weg in eine größere Stadt. Dort lernt sie einen wesentlich älteren Mann kennen. Sie gibt darauf den Sohn wieder zu ihren Eltern. Als sie ihn nach einem halben Jahr wieder haben will, verweigern ihr das die Eltern. Sie >entführt< darauf das Kind aus der Wohnung ihrer Eltern. Diese schalten die Polizei ein, und so kommt es schließlich, dass Tobias für sechs Monate über das Jugendamt in einer Pflegefamilie untergebracht wird und dann wieder zu seiner Mutter kommt. Frau H. wird erneut schwanger und bringt innerhalb von zwei Jahren zwei Mädchen zur Welt, Sandra und Annabell. Wenige Wochen vor der Geburt des zweiten Mädchens schickt sie auch den Vater dieser Kinder weg. Sie sagt: >lch habe erfahren, dass dieser Mann mit Tieren rumgemacht hat.< Der Vater der Mädchen bekommt vom Gericht für seine Töchter alle 14 Tage ein Umgangsrecht zugesprochen. Frau H. schickt an diesen Wochenenden manchmal auch den Sohn Tobias mit zu ihm. Von einem der Kinder erfährt sie nach einem halben Jahr, dass dieser Mann, der Vater der beiden Mädchen, die Kinder sexuell missbraucht. Als sie dies dem Jugendamt erzählt, glaubt man ihr nicht. Nach Aussage von Frau H. sagte ihr damals die >Frau vom Jugendamts >Sie gehören zu den Müttern, die ihre Kinder in den Müll schmeißen. Da habe ich ihr den Tisch vor die Füße gekippt. Die Kinder müssen weiterhin zum Vater. Erst als eine andere Frau den Vater von Sandra und Annabell wegen sexuellen Missbrauchs an ihren eigenen Kindern bei der Polizei anzeigt, wird dieser verhaftet und später zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Als Frau H. erneut einen wesentlich älteren Mann kennenlernt, wird sie bald wieder schwanger, und die beiden Jungen, Martin und Dennis, kommen in kurzem Abstand zur Welt. In der neuen Familie, die in einkleines Dorf zieht, kämpft vor allem Sandra um ihren Platz. Im Kindergarten entdecken die Erzieherinnen >Hämatome unterschiedlichen Alters< am ganzen Körper der damals Vierjährigen. Frau H. sagt dazu: >lch trete mein Kind nicht. Sie kriegt höchstens mal was auf den Hintern oder eine gescheuerte Ein Psychiater, der Sandra diagnostisch untersucht, schreibt u.a.: >Sandra uriniert noch ins Bett. Sie isst nachts den Kühlschrank leer und streunt im Dorf umher. Sie hat das Kaninchen ihres Bruders in der Dusche ertränkt.< Nach Aussagen von Sandra ist es ihr Stiefvater, der sie brutal schlägt. Frau H. sagt über Sandra: >Das Kind lügt ständig. Sie will immer im Mittelpunkt stehen und alles für sich allein
haben. Den Hasen von Tobias wollte sie nur waschen.< Sandra kommt in eine Pflegefamilie, die sie nach einem Jahr wieder zurückschickt, weil das Adoptivkind in dieser Familie mit Sandra nicht zurecht kommt. Die Sozialpädagogin, die im Auftrag des Jugendamtes 20 Stunden in der Woche in der Familie als Erziehungsbeistand arbeitet, schätzt Frau H. als >wach und authentisch< ein. Sie will ihr durch ihr eigenes Vorbild zeigen, dass es im Umgang mit den Kindern andere Möglichkeiten gibt, als nur mit
Aggression zu reagieren. >lch versuche, den Blick von Frau H. zu weiten. Ich will ihr Selbstbewusstsein stärken.< Immer wieder löst sie Frau H. für einen halben Tag aus der Familie heraus, um ihr ein Gespür für sich selbst zu geben. Auch Sandra hat sie schon einmal für ein Wochenende mit sich nach Hause genommen. Frau H. will endlich vom Jugendamt in Ruhe gelassen werden. Sie will, dass sich niemand mehr in ihr Leben und in ihre Familie einmischt. Sie sagt: >Sandra und ich kommen
uns jetzt wieder näher. Früher habe ich sie weggeschoben, als sie mir einen Kuss geben wollte. Das mache ich jetzt nicht mehr.
Einen Ausweg aus solchen unheilvollen Verstrickungen zwischen Sozialpädagoginnen und Klienten gibt es meines Erachtens dann, wenn die Opfer- wie Täteranteile bei den Klienten in ihrem Zusammenspiel gesehen und bei den beraterischen und juristischen Maßnahmen adäquat und situationsbezogen berücksichtigt werden. Es hilft nicht viel, allein
bei den seelisch gestörten Kindern anzusetzen, sie in Heilpädagogischen Tagesstätten zu fördern, in Heime oder Pflegefamilien zu vermitteln oder ambulante Erziehungshilfen für die Kinder zu installieren. Die Kinder sind symbiotisch zu sehr mit ihren Eltern und insbesondere ihren Müttern verstrickt. Es hat auch nur einen begrenzten Effekt, den Müttern als Vorbild bei der Erziehung dienen zu wollen in der Hoffnung, diese könnten dadurch mütterliche Kompetenzen erwerben. Ohne diesen Müttern klar zu
spiegeln, dass man ihre traumatischen Kindheitserfahrungen und seelischen Spaltungen in allem sehen kann, was sie tun, auch wenn sie es vor sich und anderen zu verbergen versuchen und einen Schein von Normalität wahren wollen, ohne ihren selbst- und fremdschädigenden Überlebensstrategien Grenzen zu setzen und sie dazu aufzufordern und ihnen Mut zu machen, sich in ihrer heillosen Überforderung Hilfe zu holen, sich in eine therapeutische Behandlung zu begeben, in der sie an ihren traumabedingten Spaltungen sinnvoll arbeiten können, wird sich nichts Wesentliches in einer solchen Familie ändern. In den professionellen Institutionen sollte das Helferteam klarsehen, was auf der seelischen Ebene bei einer traumatisierten Mutter los ist und wie sich ihre Spaltungen bereits in der seelischen Struktur der Kinder fortsetzen. Das professionelle Helferteam sollte sich bei dieser schwierigen Aufgabe gegenseitig möglichst gut stützen und für sich daraus die persönliche wie fachliche Sicherheit gewinnen und den Mut aufbringen, solche Mütter und Väter mit der Wahrheit ihrer eigenen Traumatisierungen zu konfrontieren, ihre Überlebensanteile offen zu spiegeln, ihren Täteranteilen klare Grenzen zu setzen und ihren Opferanteilen Unterstützung anzubieten. Sonst werden auch die Kinder nicht mehr aus ihren Spaltungen herauskommen. Die Töchter bindungstraumatisierter Mütter und Väter werden sonst mit hoher Wahrscheinlichkeit die nächste Generation verwirrter Frauen und Mütter sein, die Söhne die nächste Generation gewalttätiger und übergriffiger Männer und Väter.
6.7 Wahnhafte Verstrickungen
Im Spiegel seiner Mutter findet das Kind die Basis seiner seelischen Identität und das Gefühl dafür, wer es ist. Falls die mütterliche Seele einen Zerrspiegel aus gespaltenen und in sich verwirrten Seelenanteilen darstellt, findet auch das Kind keinen klaren Bezugspunkt für seinen eigenen Identitätskern. Weil die Mutter selbst ihre Gefühle nicht versteht, kann sie zwischen ihren eigenen Gefühlen und denen ihrer Kinder nichtunterscheiden. Auch die Kinder können nicht lernen, was ihre eigenen Gefühle sind und welche zu ihrer Mutter gehören. Sie können sich in ihrer emotional verwirrten Mutter selbst nicht erkennen. Die Kinder werden in ihrer Identität verwirrt, weil die Mutter verwirrt ist. Ein Kind nimmt im Kontakt mit seiner Mutter all die Verwirrungen auf, in denen die mütterliche Seele verstrickt ist. Der Körperkontakt mit einer sexuell traumatisierten Mutter ist irritierend. Körperliche Nähe und Umarmungen sind mit sexuellen Gefühlen vermischt, die Mutter sieht im Kind oft eine Person, die sie als Kind sexuell erregt und ihr Gewalt angetan hat. Daher muss sich das Kind vor der Nähe seiner Mutter schützen und sich vor ihr zurückziehen, obwohl es nichts dringender wünscht als ihre Nähe. Es gerät dadurch in die Spaltung zwischen dem Seelenanteil, der die Liebe der Mutter dringend sucht, und einem anderen, der sich vor ihren chaotischen und sexuell überladenen Gefühlen und Verhaltenweisen in Acht nimmt. Die Alternative ist, entweder dem Gefühl des Verlassenseins ausgeliefert zu sein oder sich in das sexuelle Trauma der Mutter zu verstricken. Nähe kann nur zugelassen werden, wenn das Bemühen um eine eigene abgegrenzte Identität aufgegeben wird. Paradoxerweise bedeutet dies, dass ein über die Mutter vermitteltes Identitätsgefühl für das Kind nur um den Preis der Aufgabe des eigenen Realitätsbezugs zu bekommen ist. Sofern das Kind sich also auf die traumatisierte Seelenwelt seiner Mutter emotional einlässt, muss es zulassen, dass die Mutter in ihm jemand ganz anderen sieht und spürt. Es wird von seiner Mutter mit einer Person identifiziert, die ihr Gewalt angetan und sie sexuell verfuhrt hat. Das Kind selbst identifiziert sich mit der Mutter und damit mit den verwirrten Opfer- und Täteranteilen in ihrer Seele. Somit bildet sich im Kontakt mit seiner Mutter eine Widerspiegelung von Täter und Opfer in der Seele des Kindes heraus. Es ist jetzt der Vergewaltiger und die Vergewaltigte in einer Person. Wenn ein Anteil des Kindes diese emotionale Spiegelung als seine eigene Identität annimmt, wird es verwirrt und verrückt. Es gerät in eine heillose Verwirrung darüber, wer es ist. Es wird sogar in seiner Geschlechtsidentität verunsichert, da ein missbrauchtes Mädchen immer auch den männlichen Täter als einen Seelenanteil in sich gespiegelt trägt
und selbst nicht unterscheiden kann, gehört dieser Anteil zu ihm oder nicht. Menschen mit solchen Kindheitsschicksalen drehen sich in ihrer Verwirrung gedanklich um die eigene Achse. Sie können sich in Bezug auf ihre Identität auf kein reales Gefühl verlassen - das ist in der psychiatrischen Terminologie die schizophrene Komponente. In meinem Modell von seelischer Spaltung entspricht dies der Daseinsform eines extrem nach kognitiven Klarheiten suchenden Überlebensanteils. Durch emotionale Nähe können solche Menschen in »psychotische«, also wahnhafte, Zustände geraten, die ihnen völlig real erscheinen. Dem entspricht in meiner Theorie die Aktivierung traumatischer und symbiotischer Gefühle, die sie aus dem Kontakt mit ihrer Mutter in ihre eigene Seele übernommen haben.
Sexualisierte Beziehungslosigkeit
Zur Illustration, welch tiefe seelische Verunsicherungen ein Bindungssystemtrauma bei einem Menschen bewirkt, wähle ich einige Aufzeichnungen, die ein Patient mir überlassen hat. Er hatte mehrere psychotische Schübe, in denen er sich einerseits manisch als einen Mann erlebte, dem keine Frau widerstehen kann, und andererseits paranoid als potenziellen Kinderschänder und Mörder. Der Hintergrund seiner Familiengeschichte, so weit er sich durch mehrere Aufstellungen rekonstruieren ließ, besteht darin, dass seine Großmutter vermutlich außereheliche Verhältnisse hatte, eine unehelich entstandene Schwester der Mutter vermutlich deshalb umgebracht und seine Mutter von ihrem Vater sexuell missbraucht worden war. Der Patient hat auch Erinnerungen daran, selbst als Kind sexuell missbraucht worden zu sein. »Ich sitze im Cafe und fange an, Aufzeichnungen zu machen. Wie immer beobachte ich jedes meiner Gefühle und jeden Gedanken. Heute spüre ich Hass auf, meines Empfindens, hässliche Menschen und auf, meines Empfindens, eklige Männer. Das Eklige ist sexuell und dicklich. Gleichzeitig faszinieren mich manche Männer. Coole und kreative und männliche, äußerlich starke, Männer. Manchmal habe ich für einen ganzen Monat keine sexuellen Gefühle für Männer, dann wieder schon. Trotz der langen Zeit, in der sexuelle Gefühle für Männer ein Thema sind, ist der Gedanke an ein schwules oder bisexuelles Leben nicht wirklich akzeptabel für mich. Ich will es nicht, ich bin doch gar nicht weiblich. Außerdem habe
ich ja auch immer wieder sexuelle Gefühle für Frauen. Aber ich werde eben immer wieder unsicher, wenn ich Männer attraktiv finde. Vor drei oder vier Jahren wäre eine Homosexualität bei mir noch irgendwie stimmig gewesen, da ich, besonders wenn ich gekifft habe, diese überzogene, ein bisschen verrückte Bewunderung für andere Jungen gespürt habe. Mittlerweile bin ich eher mit mir selbst zufrieden, kann andere mehr so lassen, wie sie sind, früher hätte ich sie entweder scheiße oder toll gefunden. Aber vielleicht hat Homosexualität ja gar nichts mit Bewunderung zu tun, sondern es ist eine Sache der sexuellen Gefühle - das macht es nicht besser für mich. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, dass mich die Sache mit der Sexualität so beschäftigt, da es doch viel wichtigere Dinge in meinem Leben gibt. Seit zwei, drei Monaten habe ich ein Verhältnis zu einem Mädchen. Hey, wenn ich daran denke, geht's mir etwas besser. Sie ist ein richtig cooles Mädchen. Manchmal spüre ich Verliebtheitsgefühle. Manchmal spüre ich Ekel und Hass. Auf der einen Seite bin ich froh, dass ich mich in ein Mädchen verliebt habe (was ich so noch nie gespürt habe), auf der anderen Seite bin ich immer wieder unsicher, ob das denn nicht irgend etwas anderes ist (Freundschaft, Aufregung, übernommene Verliebtheitsgefühle aus dem Inzest in meiner Familie). Wenn ich das Mädchen küsse, wenn sie mich küsst, gehe ich aus meinem Körpergefühl, dann ist mir die Berührung unangenehm. Manchmal, wenn ich etwas getrunken habe, bleibe ich für vielleicht eine Minute bei mir, und die Berührung ist mir angenehm. Auch beim Sex spüre ich wenig. Ich denke, meine Sexualität ist momentan ziemlich schwach. Manchmal bin ich froh, denn eine starke, kraftvolle Sexualität würde mir Angst machen. Ich hatte seit meiner zweiten Psychose Angst, wieder mit einem Mädchen zu schlafen, da ich befürchtete, im Strudel der sexuellen Erregung gewalttätig zu werden. Jetzt denke ich beim Sex, Gott sei Dank, nicht so sehr an dieses Thema. Ich habe kein schlechtes Gewissen dem Mädchen gegenüber, weil ich so viele seltsame und schlimme Sachen fühle und denke, die sie bestimmt erschrecken und abstoßen würden, da ich in Sachen des Gefühls, das ich jetzt ein bisschen spüre, ehrlich bin. Mein Grundgefühl lässt sich oft so beschreiben: Es ist so eine Beziehungslosigkeit zur Welt. Ich gehe spazieren, ich sitze im Cafe, ich rede mit Freunden, ich esse mit der Familie, ich habe eine Sitzung bei meinem
Therapeuten, erlebe dabei viele verschiedene seelische Zustände, bin wütend, bin aufgedreht, bin ein bisschen traurig, bin dann auch verliebt. Aber es gibt kein echtes Gefühl, keine Sicherheit, keine innere Ruhe. Alles flirrt und flattert, als ob ich nicht reagieren könnte auf das Leben um mich herum. Es gibt so Gesichter, die was auslösen in mir, aber das ist alles verdreht und krank. Ich halte mich fest: am Rauchen, am Kaffeetrinken, am Reden über meine Probleme, am Malen, am Musikmachen, am
Schreiben. An Menschen kann ich mich nicht festhalten. Aber vielleicht wäre das auch falsch. Ich weiß eben noch nicht, wie ein guter Umgang mit mir und den Menschen um mich herum aussieht.«Die Bindungssystemtraumasituation macht im Grunde beziehungsunfähig, denn sie verhindert verlässliche Gefühle und emotionale Nähe. Das Überlebens-Ich ist in Reflexionen und Grübeleien verfangen, das Trauma-Ich in einem Chaos von Angst, Wut, Misstrauen, sexueller Erregung, Scham- und Schuldgefühlen. Sexualität als Mittel der lustvollen Begegnung zwischen Mann und Frau steht unter dem Vorbehalt, dass Sexualität Unheil angerichtet hat und sie die Ursache von Vergewaltigungen, Inzest, außerehelichen Kindern und deren anschließender Beseitigung war. Sexualität ist verlockend und gefährlich zugleich. Sie hat keine genaue Ausrichtung, sie kann sich auf Männer, Frauen und Kinder gleichzeitig beziehen. Sie ist nicht unterschieden von einer liebevollen Zuwendung. Der Unterschied zwischen Elternliebe und Paarliebe existiert ebenfalls nicht. Das Überlebens-Ich hält sich von zwischenmenschlichen Beziehungen daher möglichst fern, weil es Angst hat, dass es das Trauma-Ich in den Strudel der Psychose reißt. Für den oben zitierten Patienten war es u. a. eine sehr wichtige Erkenntnis, sich bewusst zu werden, dass seine psychotischen Gefühle durch zwischenmenschliche Nähe ausgelöst werden. So fand er mehr und mehr einen Weg aus seinen vielen Spaltungen heraus.
Manische Liebe
Dieses Beispiel ist ein Auszug einer Beschreibung eines Mannes aus seiner manischen Phase: »Liebe, ich spürte eine Liebe, eine grenzenlose Liebe, zu J., zu den Kindern, zu E., zu meinen Schülern und Kollegen. Ich spürte eine Liebe, die mit dem Verstand nicht zu fassen war. Gleichzeitig
begann in mir ein rasendes Denken, wer ich sei, was die Welt, das Leben sei. Alles bekam seinen Sinn, seine Ordnung. Gut und Schlecht waren aufgehoben. Ich schrieb, im Nachhinein betrachtet, verworrene Texte über Heilung, aber auch ein paar Lieder. Ich war verrückt von der Normalität - aber was war es? Wer war ich? In mir spukten Gedanken wie, ich müsste zu etwas Besonderem berufen sein. Bin ich etwa eine Reinkarnation von Jesus? Ist es meine Berufung, Bundeskanzler zu sein? Ich schrieb bereits im Lehrerzimmer an einer Kabinettsliste. Aber ich nahm auch wieder schnell Abschied von solchen Gedanken. Vieles kam und ging. Intensiv war der Kontakt mit den Kindern meiner Partnerin oder auch meinen geistig behinderten Schülern. Ich war mit einer Konzentration im Unterricht und bei ihnen, die ich bis dahin nicht kannte. Ich war so hellwach, aber in den Pausen auch sehr erschöpft von der Konzentration und auch von meinem vom Unterricht unabhängigen rasenden Denken. Ein gutes Erlebnis in der Schule war noch die Durchführung der Weihnachtsfeier. In einem Krippenspiel stellte ich einen Pfarrer dar. Vor meinem Auftritt setzte ich mich im Nebenraum nieder und betete um Kraft. Anschließend war ich wieder mit einer vollen Präsenz im Stück. Für manche meiner Kollegen war ich seltsam, von anderen bekam ich die Rückmeldung, ich hätte meine Rolle sehr gut gespielt, wie ein richtiger Pastor!In den Wochen bis Weihnachten spulte sich innerlich wahnsinnig viel ab. Ich weiß noch anfangs, da schrieb ich auf Karteikarten Eigenschaften, wie ich bin. Als wenn ein neues Sortieren meines Lebens anfangen würde. Meine religiösen Empfindungen prägten mich sehr. Ich hatte den starken Drang, regelmäßig zur Kirche zu gehen, und pflegte das Gebet. Die Bibel las ich mit neuen Augen. Meiner Partnerin war das alles suspekt. Zu Hause häuften sich die Mineralwasserkisten. Denn zu meinen besonderen Wahrnehmungen zählte auch, dass ich unterschiedliche Wirkungen von Mineralwassern auf meinen Gefühlshaushalt feststellte. Steinsieker förderte schlichtes Denken, wenn ich gar zu sehr am Drehen war, Marienbrunnen gab mir Ruhe und Kraft, Christinenbrunnen wirkte erfrischend, belebend, wenn ich mich matt und müde fühlte. Ich setzte das Wasser bewusst ein und entwickelte eine >Mineralwassertheorie<, die ich an einen bekannten homöopathischen Arzt sandte. Er bestätigte grundsätzlich meine Sinneswahrnehmungen - es sei bekannt, dass Mineralwässer bestimmte heilsame Wirkungen hätten. Ich fühlte mich in der Wahrheit meiner Wahrnehmungen bestärkt, gestand jedoch ein, dass meine großartigen Erkenntnisse< ein alter Hut seien.«In ihren psychotischen Phasen leben die in ein Bindungssystemtrauma verstrickten Menschen die verwirrten Gefühle aus. Diese intensiven Gefühle - in der Manie geht es meist um illusionäre Liebe - treiben sie zu immer verwirrteren Gedanken an. Da sie den Ursprung dieser Gefühle, der aus vergangenen Traumatisierungen in ihrer Familie kommt, nichtverstehen, suchen sie dafür Erklärungen in ihrem momentanen Erleben. Sie stellen unter dem Einfluss dieser Gefühle alle möglichen wahnhaften Bezüge in ihrer unmittelbaren Gegenwart her. Sie spüren, dass da etwas ganz Intensives in ihnen wirkt, aber sie finden den Schlüssel für die Lösung des Rätsels nicht. Den haben ihre Eltern oder Großeltern tief in ihrer Seele vergraben. Fieberhaft suchen sie in ihren manischen Phasen nach diesem Schlüssel und bringen sich dadurch in große Gefahr, ihre bisherige Existenz aufs Spiel zu setzen. Sie können andere damit ebenfalls ins Unglück reißen. Nur die Wahrheit darüber, was hinter den intensiven Gefühlen wirklich steckt, kann diesen Wahnsinn dauerhaft stoppen und zur Ruhe bringen. Oft ist es bei der manischen Symptomatik eine inzestuöse Liebe, aus der Kinder entstanden sind, oder Beziehungen zwischen höherrangigen Männern und unterstellten und abhängigen Mädchen und Frauen, aus denen Kinder hervorgehen, deren Herkunft dann verheimlicht wird oder die beseitigt werden. Die manische Liebe ist der Kompensationsversuch für extreme Lieblosigkeit.
(Auszug aus Prof. Dr. Franz Ruppert: Seelische Spaltung und innere Heilung)